Vergessene Dörfer im südöstlichen Odenwald

Die Armut der Bevölkerung in der hiesigen Region in der ersten Hälfte des 19. Jh. war das Resultat vieler unglücklicher Umstände:

Zu nennen wären unter anderem die nicht abreißende Kette von Kriegen im 18. Jh., das Napoleonische Diktat von 1803, die erneute politische Umstrukturierung im Jahr 1806, eine Verschärfung der Forstgesetze für die bäuerliche Bevölkerung Mitte des 19. Jh., Erbteilung, sowie zahlreiche Mißernten. Andererseits, kamen im Zuge der sog. Bauernbefreiung durch die Ablösung ihrer hergebrachten Abgaben, auf die Bauern Belastungen zu, die für viele ertragsschwachen Betriebe in den Taldörfern des Odenwaldes nicht zu verkraften waren. Der Standesherrschaft Leiningen wurden damals mehr Bauerngüter zum Kauf angeboten, als Erwerbsmittel vorhanden waren.

Nach dem wirtschaftlichen Niedergang waren zahlreiche Dörfer nicht mehr in der Lage alle Bewohner zu ernähren, da es im außerlandwirtschaftlichen Bereich wenig Beschäftigungsmöglichkeiten gab und die schlechten Verkehrsanbindungen der hiesigen Region auf jede Industrie abschreckend wirkte.

Aus der wirtschaftlichen Not pendelten viele in die großen Städte Heidelberg, Mannheim, und Frankfurt. Andere gingen im Herbst zum “Hopfe zopfe” in die Pfalz, doch auf Drängen der Lehnsherren wurden Randgruppen der Bevölkerung auch immer wieder ausgesiedelt, um in Amerika oder Australien eine neue Heimat zu suchen. Tatsächlich soll der erste Auswanderer im Jahre 1709 aus Schloßau in die Fremde gezogen sein. Nach 1724 konnte man eher von einer bescheidenen Auswanderungswelle sprechen, jedoch knapp 100 Jahre später änderte sich dies aufgrund der eingangs beschrieben Gründe. Zwischen Januar und Juli des Jahres 1817 ist ein sprunghafter Anstieg an Auswanderern zu verzeichnen. Nach der Revolution von 1848 nutzten zudem viele die Gelegenheit zur Auswanderung, um einer Strafe zu entgehen und unterzutauchen.

Zwischen 1850 und 1855 hatten die Auswanderungen einen regelrechten Exoduscharakter, wozu auch Gerüchte von Goldfunden in Kalifornien und Australien beitrugen. Die Regierung hoffte, auf diese “humane” Art der Abschiebung die unerwünschten Elemente wie Bettler, Korbmacher, Scherenschleifer, Schneider, Zirkusleute, Arme, Alte, Schwache und Fürsorgeempfänger auf einfache und billige Art und Weise loszuwerden. Die Zahl der Vaganten und Bettler im süddeutschen Raum belief sich Schätzungen zufolge auf 150.000 Personen.

Die Dörfer Ferdinandsdorf, Eduardstal und die Bewohner des „Wassergrund“ zeigen exemplarisch die Zustände der damaligen Zeit. Die Ortschaften liegen jeweils einen halben Tagesmarsch voneinander entfernt in versteckten Taleinschnitten, was so manchem “Räuber” auf der Flucht zugute kam.

Zu Beginn des 18. Jh. gründete Graf Ferdinand Andreas von Wiser zwischen Reisenbach und Mülben, etwa 500 Meter entfernt vom Mülbener Felsenhaus, einem bekannten Unterschlupf der Winterhauchbande, die Meiler Ober- und Unterferdinandsdorf, indem er die Armen und Besitzlosen seiner Winterhauchdörfer zusammenfaßte. Auf diese Art und Weise befreite er sich von seiner Unterhaltspflicht als Landesherr und konnte zudem Zehntabgaben der neuen Gemeinden erwarten. Dieser Gedanke sollte sich jedoch nicht erfüllen.

Unter anderem trugen die Jahre der Revolutionskriege und die Ära Napoleons mit ihren finanziellen Belastungen zum fortschreitenden Ruin bei. Der Volksmund sprach damals von “Bettelmanns Umkehr”, d.h., daß selbst Bettler in diesem Dorf keine Almosen zu erwarten hatten und besser umkehrten. Ohne staatlichen Eingriff wären die Ferdinansdorfer schon 1816 verhungert. Bei der steigenden Bevölkerungszahl trat jedoch infolge schlechter Ernten auf kargen Böden und der ungünstigen Lage am Nordhang eine solch negative Entwicklung ein, daß das Dorf der Agrarkrise der 40er Jahre nicht gewachsen war und eine Zwangsauflösung durch Badens Großherzog Leopold im Jahre 1850 unvermeidbar blieb. Die Häuser in Ferdinandsdorf wurden in den darauffolgenden Jahren abgerissen. Die Überreste dienten den umliegenden Dörfern als Baumaterial.

Bereits 1846 wurden Teile der Dorfbewohner in das “gelobte Land” ausgesiedelt, jedoch bedeutete dies für nahezu 40 Ferdinandsdorfer in einem Auswanderungslager der Ostküste Nordamerikas den Tod. 1851 schickte man weitere Bewohner auf Staatskosten nach Amerika, da eine Umverteilung auf Nachbardörfer auf wenig Gegenliebe stieß. Für 47 Ferdinandsdorfer war dies, ausgerüstet mit Verpflegung, Habseligkeiten, Geld und Kleidung, ein neuer Anfang. Mit dem Dreimaster “Schiller” erfolgte die Übersiedlung von Bremen nach New York. Die Übersiedler wurden teilweise in Baltimore seßhaft und manche konnten bereits nach einem Jahr Geld an ihre hiergebliebenen Angehörigen schicken und noch heute sind Nachfahren der Ferdinandsdorfer in Amerika bekannt.

In einem Tal zwischen Schloßau, Reisenbach und Kailbach, lag auf heute hessischer Gemarkung, das Dorf Galmbach, benannt nach nassen Teilbereichen (Gollen). Seine erste urkundliche Erwähnung hatte das Dorf im Jahre 1443 (damals noch Gollenbach). Bis zum Jahre 1803 war das Dorf gräfisch erbachisch und im Jahr 1806 kommt es mit der Grafschaft Erbach zu Hessen, eingerahmt von 3 Seiten badischem Gebiet. Dort lebten im Jahre 1828 19 Bauernfamilien (149 Einwohnern) und eine unbekannte Zahl von Besitzlosen, welche durch Wilddiebstahl und Holzfrevel von sich Reden machten. Dieser hessische Zipfel war für Gesetzesbrecher ein geradezu idealer Ort, da Sie sich bei Polizeirazien über die jeweilige Landesgrenze von Hessen nach Baden oder umgekehrt retten konnten und so vor Polizeiverfolgung sicher waren. Grenzüberschreitende Polizeiaktionen waren damals aufgrund mangelnder Kommunikationsmöglichkeiten selten. In der hiesigen Region wurde das Dorf bald Spitzbubennest genannt. Sogar der Hölzerlipps (Georg Philipp Lang), ein bekannter Räuber unserer Region, soll dort für eine gewisse Zeit gewohnt und seiner Bande Unterschlupf geboten haben.

Zwischen 1832 und 1836 kaufte der Fürst von Leiningen nach zähem Ringen um das Dorf, die Gemarkung auf und änderte den Namen nach seinem neugeborenen Sohn Eduard in Eduardstal um, wobei das Dorf in seinem 1808 errichteten Wildpark aufging. Anschließend veranlaßte er die Auflösung des Dorfes und schob hierfür Wilderei und Holzfrevel als „Ausreden“ vor. Die Bevölkerung wurde umquartiert bzw. ausgesiedelt. Dies sorgte damals für beträchtliches Aufsehen in der Presse.

Nur ein Haus blieb vom Abbruch des Dorfes verschont - das “Berg´sche Haus” (nach seinem letzten Besitzer, Joachim Berg), welches erst im Jahre 1831 errichtet wurde und noch ganz neu war. Es diente nach dem 2. Weltkrieg meinem Onkel, dem Förster Franz Müller, bis 1958 als Hauptwohnsitz bzw. Forsthaus und befindet sich auch heute noch in gutem Zustand (siehe Bild).

Fährt man entlang der Straße Seitze Buche - Kailbach in Richtung Eberbach, so liegt 600 Meter unterhalb der Seitze Buche, rechts in einem kleinen Tal, eine Waldrodung, die in den Landkarten als Wassergrund eingezeichnet ist. Dort befanden sich noch im 19. Jh. einige Häuser entlang des Talhanges. Über die Größe und Struktur des Dorfes ist nichts mehr bekannt, doch sind noch die Mauerreste der Mühle des „Wassermüllers“, der Familie Walter, vorhanden und wie in Ferdinandsdorf deutlich sichtbar. In der scharfen Kurve oberhalb des Dorfes, entspringt direkt unterhalb der Straße eine Quelle, welche noch vor wenigen Jahren eine vorzügliche Wasserqualität bot und den Bewohnern das Trinkwasser spendete. Die Quelle, sowie ein aus Schloßau kommender Bach, speisten das Mühlrad des Wassermüllers. Zudem sollen die Dorfbewohner durch angelegte Gräben und Stauwehre das Wasser auch zur Feldbewässerung genutzt haben.

Auch dieses Dorf lag inmitten des leiningenschen Wildpark und war dem Fürsten somit ein Dorn im Auge. Noch heute erzählt man sich die Geschichte vom Wassermüller, welcher als Wilderer bekannt war:

Eines Tages klopften 2 Gendarmen an seine Tür, um das Haus nach frisch erlegtem Wildprett zu durchsuchen. Der Müller war alleine zu Hause und so bat er den einen Gendarmen sein Kind in der Wiege in den Schlaf zu schaukeln, während er mit dem anderen Gendarmen das Haus durchsucht. Natürlich wurde kein Wildprett gefunden und so verließen die Gendarmen unverrichteter Dinge seine Mühle.

Als die Luft wieder rein war, holte er das Wildprett wieder aus seinem Versteck. Es lag unter dem Kind in der Wiege und wurde die ganze Zeit vom Gendarmen geschaukelt...

Nachfahren des Wassermüllers sind übrigens noch heute in Schloßau verheiratet und wer weiß vielleicht war es ja die Urgroßmutter oder der Urgroßvater der damals in der Wiege auf dem Wildprett lag.

Thomas Müller, 1999

 

Quellen:         

  • „Wingarteiba“ von Günther Ebersold
  • Im Wald da sind die Räuber“ von Günther Ebersold
  • zahlreiche Zeitungsausschnitte der RNZ
  • fürstl. Leiningensch. Archiv mit den Druckschriften „Das Leininger Jahr“
  • mündliche Überlieferungen von einigen Schloßauer Dorfbewohnern