Die Rechenmacher von Schloßau

Kein Jahrhundert war bisher von technischen Neuerungen und steigendem Lebensstandard stärker geprägt, als das Vergangene. Das Streben nach Wissen und Fortschritt hat inzwischen eine solche Geschwindigkeit erreicht, dass viele Produkte, die wir heute kaufen, schon morgen zum alten Eisen gehören.

Nichts desto trotz gab und gibt es aber auch Dinge des Alltags, die sich über viele Generationen ohne großartige Veränderungen bewährt haben. Die Fertigungstechniken hierfür wurden von Generation zu Generation weitergegeben und nur geringfügig den Neuerungen der Zeit angepasst, das Ergebnis blieb aber stets das Gleiche! Ein einfaches Beispiel, wie Entwicklergeist und die Aufbruchstimmung des Wirtschaftswunders nach dem letzten Weltkrieg, einen winzigen Betrieb zur Herstellung von Holzrechen empor brachten, zeigt sich an der Familie Bernhard aus Schloßau. Die Bernhards produzierten als Familienbetrieb in einer kleinen Werkstatt hinter dem Wohnhaus, jährlich nahezu 1200 handgefertigte Holzrechen und dies mit teils selbst entwickelten Vorrichtungen aber immer noch nach altbewährtem Muster.

Angefangen hat alles, als die Nebenerwerbslandwirte auf dem Lande mehr und mehr an Bedeutung gewannen, denn die aufstrebende Industrie- und Wirtschaftsleistung gab das noch nicht her, was kinderreiche Familien zum Leben benötigten. Um durchzukommen, waren viele Familien auf die eigene Landwirtschaft angewiesen. So stieg auch der Bedarf an landwirtschaftlichen Geräten, welche wiederum in Schuss gehalten werden mussten. In Schloßau war es vor allem Philipp Bernhard, der über die Jahre ein handwerkliches Geschick hierfür entwickelte, so dass er über die Wintermonate gerne auch von anderen Haushalten für Reparaturen in Anspruch genommen wurde. In seiner kleinen Werkstatt, in der Dorfmitte, reparierte und fertigte Philipp Bernhard hauptsächlich Holzrechen, wie er dies an vorhandenen Rechen abschaute aber vor allem von seinem Vater gezeigt bekam. Seine Fertigkeiten zeigte er wiederum seinem Sohn, Engelbert Bernhard, und so produzierten beide bereits Anfang der 1950er Jahren gemeinsam Rechen mit so viel Geschick, dass sie hierfür schon über die Grenzen Schloßaus hinaus bekannt waren. Die Schloßauer Rechen „laufen gut“ hieß es bei den Bauern und Landwirten der umliegenden Ortschaften.

Engelbert Bernhard zog es nach seiner Heirat im Februar 1956 nur einige hundert Meter weiter, zu seinem Schwiegervater in die Kailbacher Straße, wo er aber zunächst keine Werkstatt für sein „Hobby“ hatte. Dies hatte zur Folge, dass er die Rechenproduktion teilweise in die hauseigene Küche verlegen musste, wo die Späne, sehr zum Unmut seiner Frau, oft zentimeterhoch umherlagen, denn an handwerklicher Heimarbeit mangelte es ihm inzwischen nicht mehr. Für die junge Familie war dies allemal ein willkommenes Zubrot zu seinem Beruf im leiningenschen Forst, der über den Winter keine Erwerbsquelle bot und die Waldarbeiter Jahr für Jahr, für mehrere Monate zum „stempeln“ zwang.

Bereits ein Jahr nach der Hochzeit baute sich Engelbert Bernhard hinter dem Wohnhaus eine kleine Werkstatt, ausgerüstet mit den ersten Elektromaschinen der damaligen Zeit und mit selbst angefertigten Vorrichtungen. Hier wurde er nun von seinem Schwiegervater, Karl Mechler, bei der Rechenproduktion unterstützt. Schließlich stieg der Bekanntheitsgrad weiter und so entwickelte sich die kleine Werkstatt, gerade während der „Stempelzeit“, zu einer urgemütlichen Begegnungsstätte. So manches Jahr drohte der im Herbst angelegte Mostvorrat frühzeitig zur Neige zu gehen oder der frisch gärende „Reißer“ erlebte erst gar nicht sein Endstadium. Zudem kamen alljährlich auch viele Landwirte und Bauern aus der Region beim „Rechenmacher“ vorbei, um sich vor Ort die schönsten Rechen auszusuchen.

Bald stieg die Nachfrage derart an, dass ein Mangel an verwertbaren Rohstoffen eintrat. Es sei noch zu erwähnen, dass ein Bernhard´scher Holzrechen eigentlich nur aus zwei Teilen sowie zumeist 14 Zähnen besteht, Spezialvarianten hatten auch mal mehr oder weniger Zähne. Solche Varianten mussten jedoch vorbestellt werden. Bei einem Holzrechen der Familie Bernhard, war die Rechengabel aus Haselnussholz, das Rechenheb aus Buchenholz und die Zähne wiederum aus Haselnussholz. Durch das Abholzen der Feldgehölze verschwanden aber langsam die Bezugsquellen für diese Rohstoffe, wobei andererseits gleichzeitig der Bedarf an geeigneten Hölzern stieg. So musste Engelbert Bernhard im Spätherbst mit dem Traktor von Schloßau, bis an das Neckarufer fahren, um dort gleich wagenweise nach Haselnussstangen zu suchen. Das Einzugsgebiet erstreckte sich hierbei durchaus den Waldrändern des Neckarufers entlang, von Zwingenberg bis Hirschhorn. Damit die Rechengabeln später nicht krumm wurden, musste er diese zunächst „beeten“. Hierzu legte er die frisch geschlagenen Haselnussstangen in die Glut eines Holzfeuers, solange bis die Rinde aufsprang. Anschließend wurden die Gabeln durch biegen geformt und auf den Boden geschlagen, um sie auszurichten und die Rinde weiter zu lösen. Nach dem Abkühlen behielten die Stiele dann schließlich dauerhaft ihre nahezu gerade Form. Diese Arbeit vollzog Engelbert Bernhard vorzugsweise an den eigens angezündeten Lagerfeuern der Waldarbeiter im nahegelegenen Wald, um nicht im Dorf für Unmut bei den umliegenden Anwohnern zu sorgen. Die Rechengabeln wurden nach dem „Beeten“ auf ihre exakte Länge gekürzt und später nach und nach unter der Decke seiner Werkstatt gelagert, denn dort war es immer schön warm und das Holz konnte somit langsam trocknen. Auf seiner Schnitzbank entfernte er schließlich die Rinde der Rechengabeln. Auf der dickeren Seite wurde noch der Stiel zu etwa einem Viertel der Länge eingesägt und dann noch der Sägeschnitt mit einem Drahtring gegen späteres Einreißen begrenzt. Somit war die Rechengabel fertig.

Das Rechenheb war etwas einfacher zu besorgen, denn über die Sommermonate war Engelbert Bernhard unter anderem als Brennholzspalter und Holzschneider für Privathaushalte unterwegs. Bei dieser Arbeit entdeckte er mit seinem geschulten Auge immer wieder geeignetes, astfreies Holz. Als Waldarbeiter arbeitete er zudem sprichwörtlich „an der Quelle“, wenn im Herbst Buchen gefällt wurden. In seiner Werkstatt sägte er dann auf einer gewöhnlichen Kreissäge tagelang das Buchenholz zu, wobei jeden Winter mehrere Zentner Sägemehl und viele Säcke Hobelspäne anfielen. Für jedes Rechenheb fehlte nach dem Bohren der Löcher für die Rechenzähne noch der wichtigste Schritt: Nur anhand einer Schablone bohrte er frei Hand die beiden Fixierlöcher für die Rechengabel in das Buchenheb. Immer im exakten Winkel, mit exaktem Abstand. Genau dies machte die Qualität seiner Rechen aus, denn der exakte Stellwinkel entschied schließlich darüber, ob der Rechen später auch „gut lief“ und die Position der Bohrungen war dafür verantwortlich, dass der Rechen die Waage hielt und die Rechengabel auch fest im Heb saß.

Auch die Haselnussabfälle der Rechengabeln fanden noch Verwendung. Sie wurden aufgespalten und waren dann, Jahre später, immer noch gut für Rechenzähne. Hierzu schlug er die etwa 20 cm langen Stücke durch ein eigens angefertigtes Locheisen. In ein paar Stunden produzierte er auf diese Weise mehrere hundert Rechenzähne, die später in das gebohrte Rechenheb eingetrieben wurden. Wichtig war hierbei trockenes Haselnussholz, sowie das eckig geschnitzte Passstück am Ende des Zahns, sonst drohte das Heb beim Eintreiben zu platzen oder der Rechen hatte gar Zahnausfall! Sämtliche Zähne wurden zum Schluss noch auf die gleiche Endlänge zugespitzt, dann wurde die Rechengabel in das nun fertige Heb montiert. Zwei kleine Holzkeile hielten alles zusammen, ganz ohne eine Schraube oder einen Nagel, wie gesagt, nach altbewährtem Muster!

Den Vertrieb der vorrätigen Rechen übernahm Agnes Bernhard, die Ehefrau von Engelbert. Sie war bei den Bauern im Bayrischen, Hessischen und dem gesamten Odenwald bald gut bekannt. Wie sie selbst sagte, hätte sie in all den Jahren nicht nur Rechen an den Bauern bringen können, sondern wurde auch immer wieder nach heiratswilligen Mädchen für die Jungbauern gefragt. Großes Interesse hatten die suchenden Bauern vor allem an der etwaigen Mitgift der potentiellen Heiratskandidatinnen, was wiederum die alte Bauernweisheit bestätigt „Liebe vergeht, Hektar besteht!“ Bei diesen Fahrten entdeckte Agnes Bernhard manchmal auch derart entlegene Bauernhöfe, dass sie später weder wusste wie sie dorthin fand, noch wie sie wieder zurück kam.

Als der Schwiegervater von Engelbert Bernhard im März 1975 starb war er mit der Produktion der Rechen fortan komplett auf sich alleine gestellt, denn Philipp Bernhard verstarb bereits im März 1971. Durch steigenden Fortschritt und immer größere landwirtschaftliche Maschinen, sank in den 1990er Jahren auch spürbar der Bedarf an Holzrechen. Die Ära der Schloßauer Rechenmacher ging schließlich endgültig im Jahr 2001, mit dem plötzlichen Tod von Engelbert Bernhard zu Ende. Das Handwerk der Rechenmacher ist in Schloßau seither nahezu ausgestorben und der immer weiter schrumpfende Markt, wird inzwischen mehr und mehr mit Kunststoffrechen abgedeckt. In mancher Schloßauer Werkstatt findet man aber auch heute noch fachkundige Hobbyhandwerker, die Holzrechen nach dem Bernhard´schen Muster anfertigen können, allerdings in überschaubarer Stückzahl und nicht immer mit den Original Rohstoffen, welche inzwischen noch schlechter als früher zu finden sind.

Eine besondere Geschichte sei hier noch zu erwähnen, denn auf die deutschlandweit sicher einzigartige Spezialität von Engelbert Bernhard, wurde schließlich auch das Fernsehen aufmerksam. Die ARD schenkte ihm im Jahr 1987 in der Sendung „O Heimatland“ ein etwa zehnminütiges Kapitel. Der Beitrag wurde natürlich in seiner Werkstatt aufgezeichnet und freut sich auch heute noch großer Beliebtheit in Schloßau.

Wenn man heute als Schloßauer in den Odenwalddörfern der Region seine Herkunft nennt, bekommt man aber immer noch die Frage gestellt, ob dies nicht das Dorf ist, von wo einst der Rechenmacher kam. Wie man sieht wurden seine Rechen weit und breit geschätzt und dieses Handwerk ist immer noch förmlich mit dem Ortsnamen verschweißt.

Mit Sicherheit aber, schlummert auch bei manchem Leser noch ein original Schloßauer Rechen, aus der Hand der Bernhards, im Schuppen oder in der Garage! Schauen Sie doch mal nach - allerdings nur echt mit 14 Zähnen! Sollten Sie einen finden, dann halten Sie dieses handgefertigte Unikat in Ehren, denn es wird schwierig, einen vergleichbaren Ersatz zu finden!

Thomas Müller, Schloßau, 2010

Quelle: Diverse Gespräche mit Engelbert und Agnes Bernhard sowie einigen Schloßauer Waldarbeitern, die mit ihm zusammen arbeiteten.

Bild 1: Rechenmacher - Engelbert Bernhard (links) und sein Schwiegervater Karl Mechler (rechts) beim Herstellen des Rechenhebs

Bild 2: Heuernte mit Pferdegespann - Irma Münkel mit ihrem Bruder Edmund Münkel aus Schloßau beim Beladen eines Heuwagens. Man beachte die Details und den Hund!.

Bild 3: Heuernte im Schloßauer Gewann „Striet“ - heute bebaut