Schloßauer Christkind war vor 50 Jahren nationaler Botschafter Odenwälder Weihnachtsbrauchtums

Das Weihnachtfest ist sicherlich das Ereignis im Jahreslauf, zu dem sich über die Jahrhunderte weltweit der meiste Brauchtum entwickelt hat. Was dem Amerikaner sein „Santa Claus“, dem Dänen sein „Julemand“, dem Russen sein „Väterchen Frost“, ist uns Deutschen das lieb gewonnene Christkind. Ob als bärtiger Mann in roter Bekleidung, als alter Mann im dicken Pelzmantel, als zartes Wesen im weißen Kleid oder gar als kleines Wichtelmännchen mit Zipfelmütze, die Figuren des Weihnachtsfestes sind zwar vielfältig über den Globus verteilt, treten aber jeweils als Kulturträger ihres Landes auf, wenn auch das Weihnachtsfest weltweit an ganz unterschiedlichen Tagen zwischen dem 06. Dezember und dem 06 Januar gefeiert wird. Die Tradition einen geschmückten Christbaum aufzustellen findet man hingegen nahezu überall auf der Welt in ähnlicher Weise. Dieser Brauch ging darauf zurück, die Wohnung in der tristen Jahreszeit etwas zu begrünen. Das „einfache Volk“ bediente sich hier zunächst grüner Zweige und „Dannenreisig“. Erst später hielt der (Nadel-)Baum überall Einzug. Um 1830 wurden die ersten Christbaumkugeln aus Glas geblasen und ein Tannenbaum damit geschmückt. Glaskugeln als Baumschmuck haben sich fortan in vielfältiger Art und Weise entwickelt. Der Brauch mit zusätzlicher Verwendung von Lametta als Christbaumschmuck, wurde 1878 als Neuerung in Nürnberg entwickelt. Das Lametta als Christbaumbehang symbolisiert, als kleine Bündel aufgehängt, glitzernde Eiszapfen zur kalten Jahreszeit. Dieser Brauch ist allerdings nicht einmal deutschlandweit in allen Regionen ausgeprägt und wird vielerorts gar nicht umgesetzt.

Wie eingangs erwähnt, tat sich hierzulande besonders das Christkind mit seinen Begleitern als Figur zur Weihnachtszeit hervor, wobei sich dieses “Christkindlesspiel“ gebietsbezogen – und hier sei der hintere Odenwald gleich etwas genauer betrachtet - in unterschiedlicher Art und Weise entwickelte. Heute gibt es im Odenwald sogar von Dorf zu Dorf ganz individuelle Traditionen und Gepflogenheiten zur Weihnachtszeit.

Die Geburtsstunde des Christkindes als weihnachtliche Figur geht auf Martin Luther, also in die Mitte des 16. Jh. zurück. Es wurde damals für die evangelischen Christen als Ersatz für Sankt Nikolaus eingeführt, der vor allem von Katholiken zur Weihnachtszeit verehrt wurde. Das Christkind setzte sich schließlich als Weihnachtsfigur gegenüber dem Nikolaus durch und so entstand religionsunabhängig, ein eigener Brauchtum rund um´s Christkind und um das Beschenken der Kinder. Seit der Zeit steigender Industrialisierung, Ende des 19. Jh, änderten sich auch die Geschenke gemäß dem steigenden Lebensstandard der Bevölkerung. Waren es zu Anfang noch selbstgebasteltes Spielzeug und Weihnachtsplätzchen oder getrocknetes Obst, so folgten allmählich Puppen, Kaufläden, Schaukelpferde, Dampfmaschinen und Eisenbahnen. Heute sind es vor allem Laptops, Handys, Spielekonsolen und Digitalkameras, die sich unter dem Christbaum wiederfinden. Die Preise der geschenkten Artikel stiegen entsprechend dem Wohlstand und längst ist der Umsatz über die Weihnachtszeit ein maßgebender Index über den Zustand der allgemeinen Konsumwirtschaft geworden. Man folgt eben auch diesbezüglich dem Wandel der Zeit und verliert nur allzu gerne den Blick auf den eigentlichen Sinn der Weihnachtszeit, nämlich die Geburt Christi.

Ein dokumentierter Christkindlesbrauchtum ist im Odenwald vielerorts seit etwa 1900 nachzuweisen. Gerade in den Dörfern rund um Mudau, hat sich diese Tradition mit kleinen aber feinen Eigenheiten entwickelt. So steigt in Mörschenhardt das Christkind der Überlieferung nach mit einer langen Leiter am „Hohen Stein“, mitten im Wald vom Himmel herab, folgt einem Pfad durch den Wald und beschert die Kinder im Dorf. Anschließend steigt es von gleicher Stelle aus, bis zum nächsten Jahr wieder in den Himmel hinauf. In Reisenbach trug ein weiß gekleidetes Mädchen über viele Jahrzehnte einen Schleier und eine bunt funkelnde Brautkrone, das „Schäppeli“, was auch für einige Jahre von Schloßau in gleicher Form bekannt ist. Zudem wurde das Reisenbacher Christkind in früherer Zeit von einem achtbeinigen Schimmel begleitet. Dieser wurde von zwei Mädchen unter einem Leinentuch dargestellt. Ein Tier als Begleiter kannte man auch in vielen anderen Dörfern des Odenwaldes. Allerdings war es anstatt einem Pferd meist ein Esel der mit dem Christkind ging, was der biblischen Überlieferung von Ochse und Esel somit eher entspricht. Allmählich zog das Christkind jedoch an Heiligabend ohne Esel durch die Dörfer, da mit steigendem Wohlstand und dem besser werdenden Wohnkomfort, die Hausfrauen nicht mehr so viele Fußabdrücke und keinen unnötigen Schneematsch in ihren Stuben haben wollten. Die vom Esel als Attrappe mitgeführten „Holzfüße“ machten beim Eintritt ins Weihnachtszimmer absichtlich „Radau“, sorgten hierdurch aber auch gerne für ungeliebte Beschädigungen auf den besser werdenden (Holz-)Böden der Wohnzimmer, oder für ungeliebte blaue Flecken an den Schienbeinen der frechen Hausbewohner. So musste der Esel immer häufiger draußen bleiben und verschwand allmählich als Begleiter des Christkindes. Heute zieht das Christkind in den Odenwalddörfern alleine mit zwei oder drei Mädchen als Gesangsbegleitung durch die Straßen.

In Schloßau hatte sich die Christkindtradition Mitte des 20. Jh. sogar zu einem regelrechten Markenzeichen entwickelt und in der Zeit des Wirtschaftswunders wurde dieser besondere Brauch sogar über seine Grenzen hinaus bekannt. Im Schloßauer Oberdorf und im Unterdorf gab es über Jahrzehnte jeweils ein eigenes Christkind, um die vielen Hausbesuche an Heiligabend abwickeln zu können. Die Grenze wurde im einstigen Ortskern durch den Schloßauer Bach gebildet. Je nach „Auftragslage“ konnte diese Grenze nach einvernehmlicher Absprache der beiden Christkindgruppen, auch verschoben werden. Interessant ist, dass die Gaststätte Hirsch, direkt an der Schloßauer Bach gelegen, im jährlichen Wechsel vom Oberdorf- und vom Unterdorfchristkind aufgesucht wurde.

Auch während der Kriegsjahre zog das Christkind durch die Schloßauer Straßen. Allerdings waren aufgrund der Kriegswirren und des häufig ausgefallenen Schulunterrichts in den Jahren 1944, 1945 und 1946 jeweils die gleichen Mädchen unterwegs. An Heiligabend 1944 überquerten sie den Schloßauer Bach bei stockfinsterer Nacht, aufgrund von Fliegeralarm zwischen dem „Schwobeeck“ und dem „Fuchseneck“ auf dem kürzesten Weg, inmitten einer aufgeweichten Wiese, anstatt den längeren Straßenweg zu gehen. Die Fenster der Häuser waren verdunkelt und es war totenstill. Nur von Ferne hörte man das Dröhnen der Flieger. In vielen der aufgesuchten Familien fehlte zum Ende des Krieges der Vater, was zur Weihnachtszeit gerade für die Kinder doppelt schwer zu ertragen war. Die Auswirkungen des Krieges machten eben auch vor der Heiligen Nacht keinen Halt.

Seine Blütezeit erlebte die Schloßauer Christkindtradition vor genau 50 Jahren, als man sich von den Kriegswirren erholt hatte. Damals waren an Heiligabend wieder mehrere Dutzend Häuser zu besuchen. Im Oberdorf war bis zu dieser Zeit auch noch der beschriebene Esel dabei, im Unterdorf verliert sich seine Spur Anfang der 1960er Jahre. Zur Vorbereitung der eigentlichen Aufführung kamen die Schloßauer Mädchen der Abschlussklasse aus der Volks- bzw. Hauptschule, im Alter von etwa 15 Jahren in der Vorweihnachtszeit zusammen, um zunächst die Rollenverteilung festzulegen oder im Streitfall auch auszulosen. Danach wurden die Weihnachtslieder und Texte ausgewählt und kurz einstudiert. Bis in die 1980er Jahre, musste für jeden besuchten Haushalt auch noch eine Rute aus Birkenreisig („Birkenzinke“) beschafft werden, wobei hierbei Rentner und ehemalige Besenbinder halfen. Die Tradition mit der Rute geht darauf zurück, dass einige sanfte Züge auf Kopf und Schulter Glück und Segen bringen sollen. Je eine Rute blieb dann in den Haushalten zurück. Auf Begrüßung, Gesang und einigen tadelnden, sowie lobenden Worten, folgte die Bescherung der Kinder durch das Christkind und seinen Begleiterinnen, bevor die Mädchen wieder das Haus verließen und weiterzogen. So manches Mädchen das als Begleiterin des Christkindes dabei war, machte an besonders kalten Weihnachtsabenden auch erstmals Bekanntschaft mit wärmenden Likören und Schnäpsen, was nicht selten zu Textunsicherheiten bei den letzten aufgesuchten Haushalten führte. Bei den Eltern war der Unmut groß, wenn ihre Kinder ungeduldig am festlich geschmückten Christbaum warteten, das Christkind aber eisern auf dem Weg durch das Dorf blieb und somit die abgelegenen Häuser erst sehr spät aufgesucht wurden, denn gestartet wurde jeweils vom erwähnten Ortskern aus. Auch die Christmette durchkreuzte den Terminplan der Eltern immer wieder. Heute, im Zeitalter der Mobilität und zurückgehender Kinderzahlen, ist die Auftragslage deutlich zurückgegangen. Es gibt auch nur noch ein Christkind für ganz Schloßau und Terminwünsche sind inzwischen nahezu problemlos umzusetzen – dem Auto sei Dank! Der Ortsteil Waldauerbach hatte hingegen schon immer sein eigenes Christkind, das aufgrund des geringeren Kinderanteils kaum unter Termindruck litt.

Auf die Schloßauer Christkindtradition wurde auch der „Sender Freies Berlin (SFB)“ aufmerksam, der im Jahr 1964 eine Dokumentation über Weihnachtstraditionen drehte. Er fragte bei der damals noch selbständigen Gemeinde Schloßau an, ob an Heiligabend die Christkindaufführung gefilmt werden darf. Als Bedingung forderte das Fernsehteam ein „erfahrenes“ Christkind, so dass die Vorjahreskinder nochmals zum Einsatz kamen. Zudem wurden für den Auftritt die Gruppen vom Ober- und Unterdorf gemischt, inklusive dem beschriebenen Esel. Dies ist auch der Grund, warum im Jahr 1963 und 1964 die gleichen Christkindmädchen auf den Familienfotos zu sehen sind. Als Kulisse für die Szene, wurde das Haus von Friedrich Benig in der Dorfmitte ausgewählt, da es eine hohe Eingangstreppe für die Darstellung des Einzugs hatte. Die Mädchen, samt Esel, mussten etwa zehnmal die Außentreppe hoch, dann in die gute Stube eintreten und dort ihr Spiel vortragen. In der Wohnung  war es sehr warm, draußen hingegen bitter kalt. Um das hellbeleuchtete Haus harrten zahlreiche Schaulustige Schloßauer Bürger aus und verfolgten die Dreharbeiten des Fernsehteams. Erst im Jahr darauf konnte der Filmausschnitt schließlich zur Weihnachtszeit bewundert werden. Hierzu versammelten sich die Beteiligten in der Gaststätte Grüner Baum, vor einem der noch wenigen Fernseher im Dorf. Dort verfolgten sie gespannt den etwa fünf minütigen Beitrag. Leider ist dieser, trotz intensiver Archivsuche, nicht mehr auffindbar und Video- bzw. DVD-Aufnahmen wurden erst Jahre später Wirklichkeit.

Für die Zukunft bleibt zu hoffen, dass dieser schöne Brauch noch lange ein fester Bestandteil des Dorflebens bleibt und eine stattliche Kinderzahl dafür sorgt, dass dem Schloßauer Christkind die Aufträge nicht ausgehen.

Quellen:

  • Gespräche mit Schloßauer Bürgern 
  • Heimatbuch „Schloßau ein Höhendorf im Odenwald“ (von Bruno Trunk)
  • Wikipedia

Thomas Müller, Schloßau, 2013

 

 

Bild 1:  Christkind um 1919 unter einem Brautschleier

Bild 2:  Christkind vor dem Anwesen Scheuermann um 1946. Das Bild wurde eigens von einem Fotografen gemacht und war vor vielen Jahren auch schon in der ARD zu sehen.

Bild 3:  Christkind in der guten Stube, 1940

Bild 4:  Christkind in der Ringstraße Schloßau, 2010