Freue dich, Christkind kommt bald

Julia Müller aus Schloßau (Dritte von rechts) hat als Christkind das goldene Buch in den Händen, um am Heiligabend Lob und Tadel an die Kinder zu verteilen. Mit Schellenband und Weidenrute ausgestattet wird sie begleitet von Selina Henn, Antonia Schüßler, Jessica Böhle, Lea Holderbach und Sina Gornik (von links).

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Brauchtum in Schloßau: Über 100-jährige Tradition besteht fort. Sechs Mädchen aus Schloßau und Waldauerbach besuchen in diesem Jahr viele Familien

Seit über 100 Jahren sorgt das Christkind für große Augen bei Schloßauer Kindern. Auch 2016 ist es wieder unterwegs.

Schloßau. 1940, Heiliger Abend. Die Kerzen auf dem Christbaum bringen das silbrige Lametta und die Schmuckkugeln zum Glänzen und erhellen die dunkle Stube. Bedrohlich streckt die vor dem Weihnachtsbaum stehende Gestalt die lange Weidenrute von sich. Hinter dem dichten Schleier verlieren sich menschliche Gesichtszüge. Von Kopf bis Fuß weiß gekleidet wird sie zu einer fast geisterhaften Erscheinung.

66 Jahre später, exakt einen Monat vor Heiligabend, trudeln in die Holzhütte hinter dem Wohnhaus der Familie Müller in Schloßau nacheinander sechs junge Mädchen ein. Auf dem Tisch stehen Cola und Chips bereit, die Mädels sind gut gelaunt. Nervös sei keine von ihnen, sagen sie. Dabei sind die Neuntklässlerinnen an dem Abend nur aus einem Grund zusammengekommen: Um zu entscheiden, wer als Nächstes das weiße Kleid - von Bernadette Reinl geschneidert und von Martina Ertl-Balles aufbewahrt - anziehen wird und sich in eine über 100 Jahre alte Tradition einreiht.

 "Meine Mutter hat es auch schon gemacht", weiß Sina Gornik. Dass es die Tradition noch immer gibt, beeindruckt das junge Mädchen. Sina war es auch, die die anderen fünf angesprochen habe, erzählt Jessica Böhle. Unter der Woche stehen die Freundinnen frühmorgens an der selben Bushaltestelle und warten auf den Schulbus.

Als sie so eines Tages wie üblich an der Haltestelle "herumhängen" und auf ihren Smartphones tippen, fragte Sina in die Runde, ob jemand "Bock" auf die Christkind-Sache hätte. Die Antwort? "Könnten wir mal machen", sagt Jessica und beginnt zu grinsen.

Schon seit Schloßauer Kindergarten- und Grundschultagen kennen sich die Mädchen. Inzwischen sind sie über verschiedene Schulen verteilt und sehen sich fast nur noch morgens. "Es ist schön, dass wir gemeinsam wieder was machen können", freut sich daher Julia Müller.

Früher mit "Esel"

"Respekt und Hut ab! Find ich toll", freut sich Thomas Müller. Der 48-Jährige ist Archivar im Verein "Örtliche Geschichte" in Schloßau und damit bestens mit der Historie rund ums Christkind vertraut. Vor 1900 ist der Brauch laut dem Chronisten schon überliefert. Auf einer der ältesten Bildaufnahmen aus dem Jahr 1919 erkennt man noch zwei als Esel verkleidete Mädchen. "Der ist seit 1964 nicht mehr dabei", erläutert Müller. Mitte des 20. Jahrhunderts entwickelte sich die Tradition zu einem gewissen Markenzeichen und wurde weit über die Dorfgrenzen hinaus bekannt. 1964 war es gar Teil einer Dokumentation des Senders Freies Berlin.

Im Oberdorf und im Unterdorf gab es über Jahrzehnte jeweils ein eigenes Christkind, um die vielen Hausbesuche schaffen zu können. Das ist heute nicht mehr so. Familien, die besucht werden wollen, wurden über die Jahre weniger. Mit Ina Moser hatte man 2015 zudem Glück, überhaupt ein Christkind zu haben. Die 16-Jährige war damals mit einer Begleiterin unterwegs. Für die Kinder sei der Besuch eines "richtigen" Christkinds eine tolle Erfahrung gewesen, erzählt Ina Moser. "Da steht ein echter Mensch vor dir, fand ich selbst als Kind ja auch schön." Die Erfahrung wollte sie weitergeben.

Für den "himmlischen" Besuch bereiteten die Eltern der Kinder neben den Weihnachtsgeschenken auch einen Zettel vor mit Lob ("im Haushalt mitgeholfen oder gute Noten geschrieben") und Tadel ("mit den Geschwistern nicht streiten"), die Ina aus dem goldenen Buch vorliest. "Zwei, drei Kinder haben auch ein Gedicht aufgesagt oder ein Lied gesungen", erinnert sie sich.

Elf Besuche werden es nun dieses Jahr sein, das Christkind ist "ausgebucht". Fünf Stunden lang wird das Sextett von einer Familie zur nächsten ziehen und Kindern eine große Freude bereiten. "Es ist auch eine Verantwortung", betont Julia Müller. Die Mädchen haben sich schließlich per Zufallslos entschieden. Julia wird Heiligabend das Christkind von Schloßau sein - allerdings ohne Schleier vorm Gesicht. Man ist sich einig: "Zu gruselig."

© Fränkische Nachrichten, Samstag, 17.12.2016

 

Das Christkind an Weihnachten 2016

Das letztjährige Christkind mit seinen Helferinnen "beim Einsatz" mit einem beschenkten Kind.